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Lange Straße Nr.7: Die Drogerie von Gustav Pickel

von Gisela Meyer (geb. Pickel) und Andreas Lindemeier

Es gibt Geschäfte, die bleiben mit ihrer Einrichtung, ihrem Warenangebot und ihrem speziellen Geruch ein Leben lang im Sinn. Solch Erinnerungen werden wach, wenn man an den Kaufmann Gustav Pickel denkt, der seine Drogerie in der Langen Straße Nr.7 von Dezember 1932 bis zum September 1970 betrieb.

Gustav Pickel wurde 1904 in Angerstein geboren, absolvierte in Nörten-Hardenberg in einer Drogerie eine Lehre und arbeitete dann im Labor des Kaliwerkes in Reyershausen. 1932 kam er nach Hardegsen und eröffnete eine Drogerie in der unteren Etage Lange Straße 7 im Haus von Hans Höhne. Dieser praktizierte in der ersten Etage als Zahnarzt. Höhnes gehörte auch das Nachbarhaus, heute Nr.5. Hier praktizierte der Bader, Friseur und Zahnarzt Wilhelm Höhne. Später wohnte hier die Tochter Anna Höhne (verw. Till, später verh. Smarsch), die Schwester von Hans Höhne, der in der Nr.7 wohnte.

Zunächst bezog Gustav Pickel nur die rechte Hälfte der unteren Etage, links hatte Hanna Schlichting (später verheiratete Bergener, dann verheiratete Projahn) ihr Kurzwarengeschäft. Später übernahm Gustav Pickel auch diesen Teil.

Gustav Pickel wurde in den ersten Jahren im Geschäft zeitweise von seinem jüngeren Bruder unterstützt und 1933 auch von seiner Verlobten Martha Klein, die ihre gute Stellung als »Kaltmamsell« bei »Cron und Lanz« in Göttingen aufgegeben hatte. Da beide erst verlobt waren, kam Gustavs Braut jeden Morgen mit dem Fahrrad aus Angerstein herüber und musste abends wieder zurück. Im Juli 1933 heirateten beide. Sie wohnten mit ihren Töchtern Gisela und Renate in einer Wohnung hinter ihrem Laden.
Da Gustav Pickel von Drogeriewaren allein nicht leben konnte, bot er auch Gemischt- und Kolonialwaren an, die wurden zum großen Teil unverpackt angeboten.

Lange Straße Drogerie Pickel (Signatur mey_0020)

Laden und Wohnung auf einer Etage. Links die Tür mit Gardine führrte in das Wohnzimmer der Familie.

Tochter Gisela Meyer erinnert sich: »Zucker, Salz, Mehl usw. wurden aus Säcken in hölzerne Schubladen abgefüllt und dann nach Wunsch des Kunden in Papiertüten abgewogen. Essig wurde mit einem geeichten Maß aus Zinn aus einem Fass oder großen Keramikbehälter in Flaschen abgefüllt, Pfefferkörner in einer großen verzierten Handmühle je nach gewünschter Stärke gemahlen…. Vielen Kunden blieb in Erinnerung, wie exakt mein Vater die Papiertüten verschloss. Er faltete und kniffte sie und gab ihnen mit der Handkante obenauf noch die richtige Stabilität… Er trug jederzeit griffbereit einen Bleistift hinter dem Ohr und notierte die Preise auf dem Einwickelpapier. Es gab zwar eine Registrierkasse, in die jedoch nur zum Schluss der Gesamtbetrag eingetippt wurde. Erst zum Räumungsverkauf 1970 wurde eine moderne Kasse ausgeliehen.«

Für Kinder war die Drogerie ein Paradies. Wurden sie von ihren Eltern zum Einkauf geschickt, belohnte sie Herr Pickel mit Bonbons, Lutschstangen und Gummibärchen aus den großen Glasbehältern, in dem sie lose aufbewahrt wurden.

Gisela Meyer: »Spannend fand ich als Kind immer das große Glas mit bunten Kunststoffringen. Meine Eltern schenkten mir und meiner Freundin manchmal welche und wir steckten sie stolz an den Finger. Gedacht waren sie jedoch zum Kennzeichnen von Hühnerbeinen. Auch erinnere ich mich an ein großes Glasgefäß mit Kölnisch Wasser, aus dem die verlangte Menge in kleinen Flaschen abgepumpt wurde. Ein kleiner Junge kam oft ins Geschäft und verlangte für 10 Pfennig »Frische Luft«, manchmal auch für 20 Pfennig, wenn seine Mutter Geburtstag hatte. Meine Eltern waren immer recht großzügig zu den kleinen Kunden und pumpten auch in diesem Fall immer etwas mehr »Frische Luft« ab.

Unübertroffen war jedoch die auch heute noch nicht vergessene Kunstfertigkeit meines Vaters, aus den oberen Regalen mit einer an einem langen Stiel befestigten Zange Päckchen und Dosen zu ergreifen, sie fallenzulassen und mit der linken Hand mit tödlicher Sicherheit aufzufangen.

Er rührte mit viel Fantasie alle gewünschten Farben an und durfte als gelernter Drogist auch Gifte verkaufen. Meine Schwester und ich hätten zu gern mal in den stets verschlossenen Giftschrank geschaut, auf den ein gruseliger Totenkopf aufgemalt war, doch das durften wir natürlich nicht Wie mir auch heute noch versichert wird, blieb trotz der vielen Arbeit immer noch Zeit für ein Schwätzchen mit dem Kunden.«

Im April 1945 zogen amerikanische Truppen in in Hardegsen ein. Viele Hardegser flohen in diesen Tagen in den Wald. Die Soldaten durchsuchten Wohnungen und besetzten Häuser.

Gisela Meyer-Pickel erinnert sich an den Einmarsch der Amerikaner: »Wir wurden eines Morgens von unserer Großtante geweckt. Sie zitterte am ganzen Leib und half uns mit fliegenden Händen beim Anziehen. Sie sagte, dass der Feind vor der Tür stünde und zog uns mehrere »Etagen« übereinander an. Wir sollten alle in den Wald gehen und dort abwarten. Nun begannen auch wir Kinder zu zittern, In der Hauptstraße sah man lange Kolonnen von Menschen, die mit vollbepackten Handwagen, auf denen auch die kleineren Kinder saßen, in Richtung Wald zogen. Unsere resolute Mutter änderte jedoch ihre Meinung, nachdem sie sich mit dem Hauswirts-Ehepaar besprochen hatte. Oben befürchtete man eine eventuelle Verwüstung der Zahnarztpraxis, unten bangte meine Mutter um unser kleines Ladengeschäft, dass sie seit 1941 allein führte. Sie klebte noch auf alle möglichen Gefäße, Regale und Schubladen Etiketten mit einem Totenkopf und der Aufschrift »Gift«. Auf einigen dieser Etiketten fehlte der Totenkopf und es stand nur »Gift« darauf, worüber sich die Amerikaner sehr amüsiert haben sollen, denn im Englischen bedeutet »gift« Geschenk.

So gingen wir alle in Höhnes großen Vorrats- und Kohlenkelle, der eine Falltür hatte. Hier saßen wir nun ängstlich und hörten durch das kleine Kohlenfenster Auto- und Panzerlärm, jedoch keine Schüsse. Nach einiger Zeit trauten sich die Erwachsenen nach oben, später auch wir Kinder…Übrigens haben sie den Laden und die Praxis nicht verwüstet. Mutti führte das auf die gute Idee mit den Gift-Schildern zurück.«

Die Erinnerungen von Gisela Meyer sind in ihrem 2000 erschienen Büchlein »Geschichten aus und um Hardegsen (1866-1947) festgehalten.