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Übersichtskarte

Die Steinbreite

von Andreas Lindemeier

Die Steinbreite verbinden viele ältere Hardegser Bürgerinnen und Bürger mit einem traditionellen mehrtägigen Fest in fröhlicher Geselligkeit. Zu diesem Anlass kamen etliche Familienangehörige, Freunde und Freundinnen aus Nah und Fern alljährlich zusammen.*

Das beliebte Volksfest fand traditionell am ersten Juliwochenende statt und dauerte anfangs von Samstag bis Sonntag. Später wurde es um den darauffolgenden Montag verlängert. Der Festplatz lag auf der Steinbreite, einer im Westen der Stadt vorgelagerten Sandsteinanhöhe, dem heutigen Standort des Wohnmobilhafens.

Der Platz auf der Steinbreite war schon seit ewigen Zeiten ein günstig gelegener Versammlungsort. Es liegt eigentlich nahe, dass er auch eine alte Thing- und Gerichtsstätte gewesen sein könnte, das ist aber nicht durch Aufzeichnungen belegt.

Die Anhöhe gliedert sich in zwei Ebenen. Die obere ist mit alten Linden umgeben, die untere war eine flache Fläche. Hier wurde auch vor der Einweihung des Sportplatzes in den Teichwiesen Sport getrieben. Deswegen wurde dieser Ort 1922 ausgewählt, um mit über 300 auswärtigen Gästen ein »Gauturnfest« zu feiern.

Steinbreite (Signatur li_1237)

Früher »Schüttenhoff«, dann Steinbreitenfest

Das Steinbreitenfest ist nachweislich aus den Schützenfesten des Mittelalters hervorgegangen. Karl Lechte führt in seiner Chronik aus, dass in der Erbzinsbeschreibung von 1539 mehrfach der Hardegser »schüttenhoff« erwähnt wird. Wegen ihrer paramilitärischen Bedeutung förderten die Landes- und die Ratsherren der Städte die Schützenvereine, statteten sie gelegentlich mit Land aus. Sie unterstützten sie beim Bau eigener Schießanlagen, finanzierten die Munition oder boten andere Unterstützungen.

Am 20. Juni 1687 fand der erste datumsmäßig überlieferte »Schützenhof« statt. Lechte schreibt weiter: »Die alte, wertvolle Schützenkette … weiß von den Festlichkeiten der Jahre 1748 – 1844 zu erzählen … Unsere Vorfahren feierten nicht in jedem Jahr. In Not-, Teuerungs- und Kriegszeiten fielen alle Feiern aus.« (2)

Auf dem Festplatz wurden Lauben und Unterstände geschaffen und Sitzgelegenheiten aufgestellt. An Holzständern wurden zum Regenschutz große Planen aufgespannt, die sonst bei Regen und Gewitter die Fuder der Pferdefuhrwerke abdeckten.

Es wurde reichlich Bier aus der örtlichen Brauerei getrunken. Der Magistrat der Stadt bezuschusste diese »kommunalen Trinkgelage« mit Geld aus der Stadtkasse. Oft gab es über die anfallenden Kosten Streit. Deswegen wurde 1839 beschlossen, nur noch alle vier Jahre einen Schüttenhof abzuhalten, wobei der Magistrat zur Bedingung machte, dass die Deckung der Kosten nicht wieder der Kämmereikasse zu Last fallen dürfte.

Durch die Weiterentwicklung der Militärtechnik kam es im 19. Jahrhundert zum Niedergang der traditionell organisierten Schützengesellschaften, die sich bald neu organisierten, doch jetzt unter den Bedingungen des bürgerlichen Vereinswesens. (3) In dieser Periode wurde zeitweise das öffentliche Scheibenschießen verboten, weil die Zahl der damit verbundenen Unfälle stieg.
In Hardegsen löste ab Mitte des 19. Jahrhunderts die »Steinbreitenmusik« das Schützenfest ab. Lechte schreibt in der Stadtchronik: »Die Steinbreite, wie das Volksfest genannt wurde, ist der Hardegser Bevölkerung geradezu ein Bedürfnis. Noch um die Jahrhundertwende war dieses Fest nicht nur für die Jugend, sondern auch für viele Erwachsene in ihrer bescheidenen Lebensweise der einzige Ausblick auf Freude und Frohsinn.« (2) Jahrelang schlossen sich auch Studenten der Göttinger Universität dem Fest an.

In einigen Jahren wurde das alljährliche Fest mit einem Vereinsjubiläum verbunden, so zum Beispiel vom Gesangsverein, der Feuerwehr, dem Sportverein und dem Schützenverein.
Das letzte Steinbreitenfest vor dem Zweiten Weltkrieg fand 1938 statt, wobei die Symbole der Nationalsozialisten, wie in den Jahren zuvor, bereits allgegenwärtig sichtbar waren.

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Die Symbolik der Nationalsozialisten begleitete bereits 1934 den Umzug.

Munitionsanstalt und Kriegsgefangenenlager

1940 richteten die Nationalsozialisten auf der Steinbreite eine Außenstelle der Luftwaffen-Munitionsanstalt Lenglern ein. Sie bestand aus zehn Holzbaracken, in denen Bauteile für Bomben sowie Holzkisten für den Versand der Munition hergestellt wurden. »Sieben Holzbauten dienten als Lagerhallen für Munitionskisten und Bombenhüllen. Ferner verfügte die Anlage über eine Wohnbaracke für Kriegsgefangene, einen Büroraum und eine Abortanlage … Die in Hardegsen eingesetzten Kriegsgefangenen kamen zumeist aus Polen, Frankreich und der Sowjetunion … Eine Vereinbarung sah vor, dass die Gefangenen, soweit sie nicht von der Munitionsanstalt beschäftigt würden, der Stadt zur Verfügung gestellt werden sollten. Insgesamt arbeiteten bis zu zwanzig Kriegsgefangene bei der Stadt und bei einheimischen Bauern in der Landwirtschaft.« (1)

Nach der Auflösung dieses Außenlagers wurde das Gelände umgehend und pragmatisch anderweitig genutzt. Dass hier unter menschenunwürdigen Bedingungen Material hergestellt worden war, um einen Vernichtungskrieg zu befeuern, war, ganz dem Verdrängungskonsens der Nachkriegzeit entsprechend, bald nicht mehr sichtbar.

Unmittelbar nach Kriegsende wurden in der Wohnbaracke kurzzeitig Heimatvertriebene untergebracht. Im Jahr 1946 wurden zwei Baracken an einen Fuhrbetrieb vermietet. Eine dritte Halle nutzte das Straßenbauamt Northeim.

Das große Fest

Steinbreite (Signatur he_0300)

1950 wurde die Festtradition wieder aufgenommen. Die Stadt hatte inzwischen eine der Lagerhallen zur Festhalle ausgebaut, sodass, geschützt unter einem festen Dach, ausgiebig gefeiert werden konnte. Viele »alte Hardegser«, die Ende der 1950er- und in den 1960er-Jahren weggezogen waren, freuten sich, am ersten Juliwochenende zu Verwandten- und Freundesbesuch nach Hardegsen zu kommen, um sich hier auszutauschen und ausgelassen zu feiern.

600 Jahrfeier Stadt Hardegsen  (Signatur li_1093)

Ausgelassene Stimmung im Festzelt wie hier 1983 im Rahmen der 600-Jahrfeier

Auch die Kinder freuten sich sehr auf die Steinbreite und waren aufgeregt, wenn Tage vor dem Fest begonnen damit wurde, die Straßen und Häuser der Stadt zu schmücken.
Anni Schrader (verheiratet Scholz), geboren 1930, schreibt: »Die Spitze des Vergnügens war einmal im Jahr das »Steinbreitenfest« am 1. Sonntag im Juli. Da fieberten Jung und Alt draufzu. Jedes Haus bekam zwei Birken vor die Tür und über die Straße wurden bunte Bänder oder Girlanden gespannt. Es sah toll aus. Hinter der Kapelle marschierte alles was Beine hatte zum Festplatz zum Tanz. Das Karussell und grüne und rote Brause waren für uns Kinder das Höchste. Natürlich trank auch manch einer über den Durst hinaus und fiel aus dem üblichen Rahmen des Anstands. Das Karussell wurde von einem größeren Pony gezogen. Ein zweites stand zum Ablösen am Zaun. Den ganzen Tag rundherum gings und dazu Musik aus dem Leierkasten. Die Pferdchen aus dem Karussell hatten eine echte Mähne und Schweif und waren herrlich angemalt…Die Schießbuden waren bestückt mit wunderschönen Papierblumen in allen Farben. Die Männer schossen sie und steckten sich eine ans Revers oder für ihre Mädchen einen Strauß.« (4)

Steinbreite (Signatur he_0226)

Die prächtig geschmückte Stubenstraße 1961

Die 14jährige Brunhilde Molthan (verheiratet Friedebold) schreibt über das Steinbreitenfest von 1952: »Auf dem Platz verteilt standen eine Schießbude, Losbude, Zuckerbude und noch viel mehr. Zum Vergnügen gab es für große und kleine Gäste einen Vergnügungspark, es gab ein Kinderkarussell, Kettenkarussell, Autoskooter und noch viele schöne Dinge. Wir machten einige Runden mit der Schiffsschaukel.« (5)

Etliche Pärchen kamen sich auf der Steinbreite zum ersten Mal näher. Genau beäugt wurde, wer besonders stark miteinander turtelte oder innig schwofte. Auch fiel auf, wenn sich ein Pärchen sehr lange aus dem Zelt entfernte. Besonders beliebter Treffpunkt dabei waren die Bänke im Rondell unter den Drei Eichen, ca. 500 Meter oberhalb des Festplatzes gelegen und bis 1970 unbebaut. Hier standen am Waldrand drei riesige Eichen und man hatte einen herrlichen Blick auf Hardegsen und ins Leinetal. Die persönlichen Beobachtungen auf dem Steinbreitenfest waren begehrte Informationen für den Klatsch nach dem Fest. Vor allem in den kleinen Geschäften und während der eintönigen Arbeit auf dem Feld tauschte man sich aus.

Mittelpunkt des Festes war ein großer Umzug durch das Stadtgebiet, anfangs über die Straßen der Innenstadt und Vor dem Tore. Mitte der 1950er Jahre wurde die Route über die Straße Am Gladeberg, die Göttinger Straße, den Mühlenstieg, die Sohnreystraße und die Bahnhofstraße erweitert. An diesem Festumzug beteiligten sich alle Hardegser Vereine, viele Betriebe, weitere Gruppen und insbesondere alle Klassen der Hardegser Schule.

Steinbreite (Signatur he_0231)

Die Volksschule stellt sich 1961 am Gasthof Drei Kronen zum Umzug auf.

Der Umzug bestand aus Fußgruppen und aufwändig gestalteten Festwagen. Die Straßen, durch die der Umzug lief, waren von den Hardegser Einwohnerinnen und Einwohnern und von sehr vielen auswärtigen Gästen gesäumt.

Im Jahr 1963 wurde zum Steinbreitenfest der Stadtpark am Gebäude der Stadtverwaltung und der Minigolfplatz an der Göttinger Straße eingeweiht, 1965 folgte der Wildpark.
Im Jahr 1964 hieß es im Hardegser Stadtanzeiger: »Im Rahmen des Steinbreitenfestes vom 25.-27. Juli sollen zum traditionellen Frühstück am Montagmorgen zwei Bratwürste und ein kleines Schnitzel gereicht werden.« Das erste Fass Bier spendete traditionell das Zementwerk, das nächste die Stadt Hardegsen.

Für die Zukunft beschloss der Rat der Stadt Hardegsen im Januar 1964 einstimmig das Folgende: »Das Fest soll künftig als groß aufgezogenes Fest von der Stadt nur noch alle fünf Jahre veranstaltet werden, beginnend 1965. Dazwischen soll eine Festveranstaltung auf der Steinbreite Vereinen und Gastwirten (auch auswärtigen) in eigener Regie überlassen werden. Festhalle und Festplatz werden dem Veranstalter kostenfrei überlassen«.

Kurz darauf verpachtete die Stadt die Halle auf der Steinbreite an die Firma Thimm aus Northeim, die hier bis 1970 mit ca. 40 Beschäftigten Wellpappen verarbeitete. Die Halle stand somit für die Steinbreitenfeste nicht mehr zur Verfügung, nur noch der Festplatz.

Vom 26. bis 28. Juni 1965 fand das Steinbreitenfest in der Regie der Stadt unter dem Motto »75 Jahre Steinbreite« statt.

1966 war der Wirt des Gasthofs Drei Kronen, Emil Bönig, Veranstalter einer »kleinen Steinbreite«.

Die zeitlichen Abstände der folgenden Steinbreitenfeste wurden immer größer. Anlässe waren besondere Jubiläen, wie 1972 das 100jährige Bestehen des Hardegser Sportvereins, das an drei Tagen am Ende einer Festwoche im Zelt auf der Steinbreite ausgiebig gefeiert wurde. Ebenso nahm die Freiwillige Feuerwehr ihr 100jähriges Jubiläum zum Anlass, auf der Steinbreite vom 6. bis 9. Juli 1979 zu feiern.

Letztmalig war die Stadt Hardegsen im Jahr 1983 Veranstalterin einer Steinbreite, die in eine sehr vielfältige Festwoche aus Anlass der 600-Jahrfeier der Gemeinde eingebunden war. Dieses Großereignis war zwei Jahre lang von einem Festausschuss in 32 Sitzungen vorbereitet worden und wurde zu einem spektakulären Erfolg. Mehr als zweitausend Menschen feierten am Samstag ausgelassen bei einem Galaabend mit bekannten Künstlern. Zehntausend Menschen säumten am Sonntag die Straßen der Stadt und sahen einen farbenfrohen Festumzug, in dem die Geschichte der Stadt chronologisch in mehr als vierzig Bildern durch Laufgruppen und auf Wagen dargestellt wurde. Dem traditionellen Steinbreitenfrühstück wohnten weit mehr als eintausend Menschen bei und begrüßten einen leibhaftigen Esel im Festzelt.

Der Schützenverein feierte vom 22. – 24. Juni 1996 ein Schützenfest auf der Steinbreite. Es wurde ausgelassen gefeiert und getanzt. Stargast war der Sänger Bernhard Brink, der bei seinem Auftritt von einem Stromausfall gestört wurde, da das Stromnetz überlastet war. Die Besucherzahlen des Festes blieben unbefriedigend: Am Samstag waren 545 Gäste anwesend und am Sonntag 357. Die Bilanz des Vorstandes des Schützenvereins: »Es ist dem Verein nach unserer Meinung ein relativ gut zu verschmerzender finanzieller Verlust von 1227,05 DM entstanden.« Ferner wurde ein großer Zeitdruck beim Aufbau des Festzeltes beklagt, da der Zeltverleiher, die Fa. Schafhaupt, mit seiner Mannschaft zu spät erschienen war. (6)

Die Erfahrungen des Schützenvereins zeigen sehr deutlich, mit welchen Risiken und Belastungen die Planung und Durchführung einer Großveranstaltung auf der Steinbreite verbunden waren, ein Wagnis, das kaum ein Verein mit ehrenamtlichem Vorstand eingehen konnte. Wenn es trotzdem immer wieder versucht wurde, wie 1996 durch den Schützenverein, geschah es, um eine Tradition aufrecht zu erhalten, und um das kulturelle Leben in Hardegsen zu bereichern.

Dieses Risiko ging im Folgejahr auch der Hardegser Sportverein ein. Das Datum dieser Steinbreite war schon seit Jahren festgelegt, da 1997 das 125jährige Jubiläum des Vereins anstand. Über das ganze Jahr verteilt fanden unterschiedliche Veranstaltungen statt, in deren Mittelpunkt ein Zeltfest am traditionellen Termin der Steinbreite stand, dem ersten Juliwochenende vom 4. – 7. Juli 1997. Die Vorbereitung aller Veranstaltungen hatte ein elfköpfiger Festausschuss über drei Jahre lang erledigt. Die wirtschaftliche Absicherung war durch ein Finanzierungskonzept erfolgt, das sich auf alle Veranstaltungen bezog. Die Kosten waren darin mit 65.000 DM kalkuliert. Dem standen auf der Einnahmenseite 41.000 Euro an Eintrittsgeldern und 15.000 DM durch die Pacht des Festzeltes gegenüber. Der Rest war durch Sponsorengelder abgesichert. Das Konzept ging auf, weil im Vorfeld eine riesige Werbe- und Mobilisierungskampagne stattgefunden hatte. Die Hardegser Bürgerinnen und Bürger machten ein weiteres Mal die Steinbreite zu ihrem Fest.

Das riesige Zelt war an drei Tagen brechend voll, auch beim Frühstück am Montag. Gegen Mittag zog eine kleine Gruppe mit musikalischer Begleitung zur traditionellen »Beerdigung« der Steinbreite. Die Beisetzung eines großen Knochens fand allerdings nicht in der Nähe des Rathauses statt, sondern im Kurpark am Teich. Niemandem war damals klar, dass es auch ein Abschiednehmen von der traditionellen Steinbreite war.

Danach wagte es kein Veranstalter mehr, das Risiko eines großen Zeltfestes auf sich nehmen. Zu hoch der personelle Aufwand und die Kosten, noch höher die Auflagen für eine derartige Großveranstaltung. Ein Stück Hardegser Kulturgeschichte ist damit verloren gegangen.

(1) Frank Baranowski, Das Lager »Steinbreite« in Hardegsen, in Südniedersachsen – Zeitschrift für Regionale Forschung und Heimatpflege, 2/ Juni 1997
(2) Karl Lechte, Geschichte der Stadt Hardegsen, 1968
(3) Deutsches Historisches Museum, Von Spießbürgern und Vereinsmeiern. Zur Geschichte des Schützenwesens, 2020
(4) Anni Scholz, unveröffentlichte Lebenserinnerungen, 2015
(5) Brunhilde Friedebold, Erinnerungen an meine Kinder- und Jugendzeit, Hardegsen 2020
(6) Die Informationen zur Ausrichtung eines Steinbreitenfestes durch den Schützenverein stellte mir dankenswerterweise Gerhard Müller, der letzte Vorsitzende, des inzwischen aufgelösten Schützenvereins zur Verfügung.

Lektorat Sus Hösel