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Die Vergeltungswaffe 2 wurde in Hardegsen komplettiert

von Andreas Lindemeier

Ein fast zugewachsener Prellbock in der Nähe des beschrankten Bahnübergangs und Geländestrukturen zwischen dem Steinbruch »Hünscheburg« und den Bahngeleisen sind letzte, fast vergessene Zeugnisse eines sehr dunklen Kapitels deutscher Kriegsgeschichte. Hier wurde die Fernrakete V2 (Vergeltungswaffe) zeitweise »komplettiert«.

V2 Komplettierungsstelle Hardegsen (Signatur li_1147)

Zugewachsener Prellbock

V2 Komplettierungsstelle Hardegsen (Signatur li_1148)

Reste der Lorenbahn-Trasse zwischen Steinbruch Hünscheburg und Bahnlinie

Recherchiert man zu der Vergeltungswaffe 2 (V2), die 1944 von der Propaganda der Nationalsozialisten als »kriegsentscheidende Wunderwaffe« heroisiert wurde, stößt man zur Entwicklung und Produktion sofort auf die Orte Peenemünde auf Usedom und Mittelbau Dora bei Nordhausen am Südharzrand. Aber auch Hardegsen spielte für sehr kurze Zeit bei der »Komplettierung« dieser totbringenden Waffe eine Rolle.

V2 Komplettierungsstelle Hardegsen (Signatur li_1142)

Modell Aggregat 4 (V2) auf dem Freigelände des Technisch-Historischen Museums in Peenemünde

Diese im modernen Sinne erste Großrakete mit Flüssigkeitstriebwerk trug die offizielle Bezeichnung »Aggregat 4« (eine Einheit, zusammengesetzt aus einzelnen, relativ selbständigen Teilen). Sie wurde ab 1937 in der Heeresversuchsanstalt Peenemünde unter Leitung von Werner von Braun entwickelt, hatte eine Länge von 14 Metern und wog 13 Tonnen. Ihr Kommen war wegen der Überschallgeschwindigkeit vor der Explosion nicht zu hören. Bis Kriegsende wurden 3.226 Raketen abgefeuert, gut die Hälfte auf den alliierten Nachschubhafen Antwerpen, 1.300 auf die britische Hauptstadt London. 8000 Menschen starben insgesamt durch den Raketeneinsatz. Bei der Fertigung dieser Vernichtungswaffe starben etwa 12.000 Zwangsarbeiter.

Die A 4 bildete dann ab Mitte 1945 die Ausgangsbasis der Raumfahrtentwicklungen der USA und der Sowjetunion, die von Wissenschaftlern maßgeblich vorangetrieben wurden, die auch unter dem Nazi-Regime gearbeitet hatten.

Ab 1944 fand die Montage der A 4 Rakete im unterirdischen Komplex der Mittelwerk GmbH in einer Stollenanlage im »Kohnstein« nahe Nordhausen statt. Zwangsarbeitskräfte waren Häftlinge aus dem dortigen KZ Mittelbau-Dora, wo bis Kriegsende 60.000 Zwangsarbeiter unter unmenschlichen Bedingungen inhaftiert waren, mindestens 20.000 kamen hier Tode. Ende des Jahres 1944 lag die Produktion bei monatlich knapp 700 Raketen. Mitte März 1945 wurde die Fertigung eingestellt.

Im Mittelwerk Dora wurde die Rakete ab Frühjahr 1944 gefertigt und mit der Bahn zu den Abschussstellen transportiert. Diese lagen anfangs in Belgien und in den Niederlanden. Nach zunehmenden Luftangriffen und Vorrücken der alliierten Streitmächte in Westeuropa wurden die Abschussstellen in das Hinterland verlegt. U.a. wurden die Raketen im westlichen Münsterland und im Westerwald abgeschossen. Die Raketen wurden hier mit Treibstoff betankt und anfangs wurde auch hier der Gefechtskopf auf die Rakete geschraubt.

Ende des Jahres 1944 kam es wohl zunehmend zu Störungen und Veränderungen in der Einsatzlogistik der Rakete. Es wurden »Komplettierungsstellen« eingerichtet. Der Raketentransport wurde auf dem Weg mit der Bahn zum Einsatzort an einem günstigen Standort auf der Strecke gestoppt und erst hier mit dem Gefechtskopf versehen und sofort weiter zur Abschussstelle transportiert.

In einem Decknamenverzeichnis zur V 2 tauchen zwei Orte auf, die als Komplettierungsstellen für die V 2 benannt werden. Unter dem Decknamen »Carmen« ist hier Hatzfeld an der Eder aufgelistet und mit dem Tarnnamen »Elvira« Hardegsen.

Der Grund, den Standort Hardegsen für eine »Komplettierungsstelle« zu wählen, lag wohl zum einen an der zweigleisigen Hauptbahnstrecke, die vom Fertigungswerk Dora bei Nordhausen direkt nach Westen führte. Zum anderen gab es in der »Hünscheburg« einen abgelegenen Steinbruch, der sich für Lagerung anbot und den Ertinghäuser Tunnel, in den man bei Gefahr die Raketen transportieren konnte. Ein Nachweis über eine Verbindung zur nahe gelegenen Munitionsanstalt Volpriehausen gibt es nicht.

Die Vorbereitungen für die »Komplettierungsstelle« begannen im September 1944 durch eine Heeres-Einheit. Insgesamt ca. 60 Personen waren wohl an dieser »Geheimen Kommandosache Elvira« beteiligt.

Nach Schilderungen eines Zeitzeugen, der von Juli 1943 bis Februar 1946 als Jungwerker beim Bahnhof Hardegsen arbeitete, wurde das Gelände des Steinbruchs in der »Hünscheburg« zunächst im Winter 1944 eingezäunt und ebenso wie der Bereich um den Hardegser Bahnhof streng bewacht. Zusätzlich wurden Tarnnetze über den Steinbruch gespannt (1).

V2 Komplettierungsstelle Hardegsen (Signatur li_1145)

Der Steinbruch in der »Hünscheburg« in Betrieb.

»Nach Auskunft des damaligen Bahnmeisters Sippel wurden für die vom Mittelwerk Dora kommenden Transportzüge kurzfristig Sonderfahrpläne eingerichtet. Mit jedem Sonderzug kamen 15-20 Raketen. Auf drei Rungenwagen (Flachwagen mit langen, stählernen Rungen, die rundherum an den Seiten des Wagens nach oben zeigend eingesteckt sind) lag jeweils ein A 4. Die einzelnen Raketenkörper waren in einer Spezialhülle verpackt und zusätzlich mit Planen abgedeckt. …….« (2)

V2 Komplettierungsstelle Hardegsen (Signatur li_1143)

Durch amerikanische Soldaten beschlagnamte V2 auf Rungenwagen 1945

Im Hardegser Bahnhof wurde der Zug auf die nördlichen Geleise rangiert. Aus dem Verbund wurden jeweils die Wagen mit einer Rakete gelöst und auf das Stumpfgleis (totes Gleis) hinter dem beschrankten Bahnübergang geschoben. Nach ca. 250 Metern endete das Gleis vor einem Prellbock.

Aus dem Sandsteinbruch in der »Hünscheburg, der seit dem Mittelalter betrieben wurde, führte eine Lorenbahn an die Bahnstrecke.

»Im Steinbruch lagerten die Nutzlastspitzen (Gefechtsköpfe). Sie wurden in Nieder-Marsberg (westlich von Warburg) gefertigt und über Scherfede nach Hardegsen in den Steinbruch gebracht. Für den Transport waren die Spitzen in ca. 1,80 hohe Eichenfässer verpackt, die verschraubt waren. Auf speziell gefertigten Loren wurden sie dann aus dem Steinbruch mit einer kleinen Benzinlok bis an das Stumpfgleis gefahren und dort mithilfe eines Flaschenzuges mitsamt der Transportverpackung auf die Raketen montiert. Diese Arbeiten nahmen Heeres-Feuerwerker vor. Anschließend wurde die nun komplette Rakete auf das Bahnhofsgelände rangiert und die nächste Komplettierung vorgenommen. So wurde schließlich ein Transportzug zusammengestellt, der dann unter Begleitung eines höheren Bahnbeamten an die wechselnden Abschussstellen weitergeleitet wurde«. (3)

Ob die Sprengköpfe tatsächlich in Hardegsen auf die Raketen geschraubt wurden, dazu gibt es widersprüchliche Aussagen. In Hatzfeld, in der zweiten Komplettierungsstelle wurden sie mit Flaschenzügen und einem Verladekran jeweils auf frei gehaltene Flächen zu den Raketenkörpern auf den Zug geladen und erst an der Abschussanlage aufgeschraubt. (4)

V2 Komplettierungsstelle Hardegsen (Signatur li_1044)

Meillerwagen, mit dem die V2 vom Umschlagplatz zur Abschussstelle transportiert wurde

An der Südwestspitze des Steinbruchs in der Hünscheburg, zu den Bahngeleisen hin, sind Laufgräben noch zu erahnen. Sie dienten zur Absicherung des Geländes. Feste Gebäude oder massive Unterstände gab es im Steinbruch nicht.

Der im Nordwesten des Steinbruchs in den Felsen gehauene kleine Bunker, stand nicht im Zusammenhang mit der Sprengkopflagerung. Er bestand vorher schon und diente der Lagerung des Sprengstoffs, der für die Sprengungen im Steinbruch verwendet wurde. Heute ist der schwer zugängliche Bunkereingang aus Naturschutzgründen durch ein Eisengitter verschlossen. Die Laufgräben ebnen sich immer stärker ein, ein zweiter vorhandener Bunker am Laufgraben ist nicht mehr zu lokalisieren. Lediglich die Trasse der alten Lorenbahn, zeichnet sich noch deutlich im Profil im dichten Gestrüpp ab.

Die militärische Anlage wurde nie durch Kampfflieger angegriffen. Lediglich ein alliierter Aufklärer ist im Februar 1945 durch den Bahneinschnitt zwischen Galgenberg und Weper auf den Bahnhof zugeflogen. Er dürfte aber von der Abwehr getroffen worden sein und drehte beschädigt ab.

Als die alliierten Streitkräfte immer näher kamen verließ am 1. Und 2. April die »Komplettierungs« Einheit Hardegsen.

Quellen:

(1) Augenzeugenbericht des Jungwerkers Helmut Lindemeier
(2) und (3): Geheime Reichssache Hünscheburg, Herbert Heere, Hardegser Stadtanzeiger 30/2009
Das Konzentrationslager Mittelbau Dora, Westkreuz Verlag 1993
(4) Informationen der Arbeitsgemeinschaft »Luftkriegsgeschichte Ederbergland« und Bericht HNA, Ausgabe Waldeck-Frankenberg vom 3.1.2021
Die Fernrakete V 2 und ihre Starträume in den Kreisen Borken, Coesfeld und Steinfurt, Reinhard Brahm, Metelen 2007